Verfasser: Renate und Rainer Ratke
Von Jugendzeiten an haben mich die großen Segelschiffe fasziniert, Graf Luckners „Seeteufels Weltfahrt“ habe ich damals verschlungen und einmal hatte ich das Glück, die legendäre „Pamir“ die Elbe heraufsegeln zu sehen, im Jahr vor ihrem tragischen Untergang. Eher zufällig stieß ich im letzten Frühjahr auf die Internetseite der deutschen Sektion von Tallshipfriends. Ganz am Ende fanden sich dort Törnpläne. Ein Angebot stach mir sofort ins Auge: In der letzten Juniwoche sollte die „Sedov“ von Stockholm nach St. Petersburg segeln. „Hey, Renate, kommst Du mit?“ – „Was kostet uns das?“ – „Na klar, das machen wir!“ Mitsegeln auf alten Windjammern ist nicht teuer: Die sechs Tage kosteten 440,- € p.P. und 60,- € für das russische Visum, das wir mit Hilfe von Tallshipfriends problemlos bekamen. (Wer diesem Verein für 80,- € Familienbeitrag beitritt, erhält zehn Prozent Rabatt auf die meisten Reisen; das rechnete sich für uns.) An- und Abreise wurden über Internet schnell organisiert: Ein bekannter Billigflieger brachte uns für je 7,80 € ab Lübeck nach Stockholm – das Gepäck aber war dabei nicht inbegriffen.
Bei prächtigem Wetter kamen wir in der schwedischen Hauptstadt an, malerisch streckt sie sich zwischen Felsbuckeln am Mälarsee entlang. Im Hafen liegt eine Reihe alter Fährschiffe, die nun als Hostels genutzt werden. Zwei Nächte haben wir dort verbracht, denn die Stadt ist an sich schon eine Reise wert. Unbedingt sehen wollten wir die „Wasa“, die vor fünfzig Jahren aus dem Schlamm des Hafens geborgen wurde und nun in erneuerter Pracht ein eigenes Museum füllt. Das nahmen wir uns für den Sonntag vor, dazu Stadtbummel und Hafenrundfahrt. Unser Schiff mussten wir nicht lange suchen: Fast sechzig Meter ragen die vier Masten über das Deck in den Himmel. Am nächsten Tage schulterten wir unsere Seesäcke, trabten den Kai entlang und durften uns nach freundlicher Begrüßung in einer der Traineekabinen einrichten.
Auf den alten Segelschiffen ist Luxus ein Fremdwort, das war uns schon vorher bewusst. Fünf Doppelstockbetten je Kabine, gemischte Belegung, aber frische Bettwäsche lag bereit. Es war günstig, in einem etwas abgelegenen Hafen anzuheuern: Die Sedov kann bis zu fünfzig Trainees mitnehmen, wir waren aber auf dieser Reise nur zu zehnt – so gab es nie Gedränge und schon am ersten Abend kannten wir alle Vornamen. Bald kam auch Nadescha, unsere Verbindungsoffizierin, die uns kurz einwies und bei Verständigungsschwierig-keiten übersetzte.
Die „Sedov“ ist eine betagte Dame. 1921 lief sie als „Magdalene Vinnen“ von der Helling der Krupp-Germania-Werft in die Kieler Förde; wurde 1935 zum Schulschiff des NorddeutschenLloyd umgebaut und in „Kommodore Johnson“ umbenannt. Nach Ende des zweiten Weltkrieges ging sie als Reparationslei-stung an die Sowjetunion und wäre 1955 fast abgewrackt worden. Die Nautische Akademie Murmansk übernahm sie aber für einen symbolischen Kaufpreis und bildet bis heute Kadetten (auch weibliche) darauf aus. Und diese sind sehr stolz auf diese größte noch segelnde Bark: „You are Germans? This ship was built in Kiel – Krupp-steel – still reliable – German Quality“, das haben wir öfter gehört. Die drei Schiffsnamen sind auf dem Messingbeschlag des Steuers eingraviert und dieses ist stets blank gewienert wie alle Messingteile.
Am Montagabend kam ein Lotse an Bord, dann ging es stundenlang mit Diesel durch die Schären. Ein lauwarmes Lüftchen weht, wir öffnen eine Flasche Havanna Club, lehnen an der Reling, ringsum Tausende kleiner und großer Granitinseln. Es wurde ein sehr langer Abend, gegen Mitternacht verschwand die Sonne rotglühend hinter der Kimm, um nur eine halbe Stunde später wieder aufzutauchen.
„Rrrrrrn, Rrrrrrn, Rrrrrrn“ kommt es aus dem Lautsprecher, dann etwas auf Russisch, was wohl „Guten Morgen! Alles aufstehen!“ heißen mochte und das morgens um sechs! Dreißig Minuten später treten die Kadetten auf Deck an und die erste Schicht darf zum Frühstück eilen. Wir haben etwas mehr Zeit, essen mit der zweiten Schicht. 103 Kadetten passen eben nicht auf einmal in den Speisesaal, der ist ziemlich schlicht, aber das Frühstück ist üppig. Aus der Bordbäckerei noch warmes Brot, Marmelade, Obst, Müsli, Spiegel- oder Rührei, Wurst – alles da! Vier Mahlzeiten gibt es auf See, drei an Hafentagen, derbe Hausmannskost, kalorienreich und immer sehr schmackhaft. Man braucht das aber auch, die Seeluft und die Mitarbeit auf Deck machen hungrig. Mitarbeit wird erwartet, sie ist aber kein Muss. Man macht nur das, was man sich zutraut. Das Schiff wird täglich gereinigt, Messing geputzt, einmal in der Woche gibt es die große Wäsche, bei der das Deck mit Ziegelsteinen geschrubbt wird. Es wird sonst zu rutschig. Nach Segelmanövern sind bis zu 50km laufendes Gut wieder aufzuschießen und auf den richtigen Belegnagel zu hängen. Überhaupt Manöver: Alles geht mit Muskelkraft, es gibt keine Elektrowinsch, die tonnenschweren Rahen werden von Hand gedreht. Sie sitzen auch nicht etwa auf Kugellagern sondern nur auf einfachen Zapfen, auch bleiben dabei die Segel angeschlagen.
Am ersten Tag ist aber zuerst ein Rundgang durch das Schiff angesagt. Nadescha führt uns zunächst in das kleine Museum. Dort hängt in einem Glaskasten der Schiffsmessbrief: Deutsches Reich, 100,20 m Rumpflänge, 14,66 m breit, 3480 BRT, darüber 4200 Quadratmeter Segel. Ergänzt wird das durch einige Photos vom Stapellauf und früheren Reisen sowie von der Grönlandexpedition des Namensgebers Sedov. Dann geht es in den Maschinenraum, ans Notruder und in die Wäscherei. Dort bügelt Walentina die Offizierswäsche, ein „deja vu“, das uns sehr an Lara aus „Dr. Schiwago“ erinnerte. In der Küche schälen Kadetten Kartoffeln und auf den Herden köchelt Gulasch für 150 Personen vor sich hin.
Draußen läuft unser Schiff unter Vollzeug bei nur drei Windstärken durch eine fast glatte nördliche Ostsee. Es ist ordentlich warm, wir ziehen uns etwas Kurzes an, legen uns auf eine Rolle Tauwerk und lassen uns von der Sonne verwöhnen. In einiger Entfernung zieht ein großes Kreuzfahrtschiff an uns vorbei – dessen Passagiere beneiden wir in keiner Weise. Mit einigen Kadetten kommen wir ins Gespräch; sie können alle Englisch, mehr oder weniger gut. Sie sind nun schon über zwei Monate auf See und freuen sich auf das Nachhausekommen. Die Raucher unter ihnen, das sind nicht wenige, leiden Not und fragen häufig nach einer Zigarette. Russische kosten unter 1,- € je Schachtel und sind längst ausgegangen; beim nächsten Mal nehmen wir eine Stange extra mit…
Das Wetter blieb die ganze Reise lang so schön. Wenigstens einen Tag lang hätte es mal so richtig blasen können!
Wir genießen die Zeit, gehen auch mal mit ans Ruder, im Kartenhaus zeigt mir Sascha, der Bootsmann vom Großmast, wie man mit einem Sextanten umgeht. Und endlich heißt es: Wer Lust hat, darf jetzt etwas klettern. Sicherheitsgurte werden ausgeteilt, zunächst geht es auf das
Bugspriet. Das ist ein ganz besonders schöner Platz. Ich lege mich ins Klüvernetz – bequem wie eine Hängematte – habe das ganze imposante Schiff vor mir und die Bugwelle sieben Meter unter mir. Renate fühlt sich schon da nicht sicher.
Bald aber geht es hinauf in luftige Höhe. Bis zur ersten Saling, etwa 25m über dem Deck ist das ziemlich einfach. Die Wanten haben feste Holzstufen und gehen mit wenig Steilheit von der Reling zum Mast. Die Sedov hat glücklicherweise deutsches Rigg, die Saling besitzt ein Mannloch und eine Kletterei über die Außenkante entfällt. Wasser, soweit das Auge reicht, tief unter mir das Deck. Ich schieße ein paar Photos, lasse die anderen weiterklettern – für mich ist hier erstmal Schluss. Später, am letzten Tag beim Segelbergen waren zwei von uns Trainees bei den Kadetten auf der Rah und haben tüchtig mit angepackt.
Vor dem Abendessen gehe ich noch mit Nikolaj zu den anderen in den „Pumakäfig“, wo viel Eisen für die Fitness bereit steht. Ganz so leicht wie zu meinen Trainingszeiten sind 50 kg komischerweise nicht mehr … Den Abend beschließen wir mit dem obligatorischen Sundowner.
Viel zu schnell vergehen die Segeltage. Wir laufen in den Finnischen Meerbusen ein, vorbei an der Festung Kronstadt, dann kommt ein marode wirkendes Hafengelände in Sicht und ein Schlepper nimmt uns an die Leine. Die Kadetten nun in ihren Ausgehuniformen, wir tuckern die Newa hinauf und liegen schließlich vor der ersten Brücke mitten im Zentrum der alten Hauptstadt. Der Zoll kommt an Bord, und mit unseren Pässen kommen auch die Meilenbücher zurück mit 373 sm und einem schönen Stempel. Wir buchen noch für je 40,- € zwei Zusatznächte (Vollpension) auf dem Schiff – ein günstigeres Hotel kann man nicht finden.
Petersburg empfängt uns mit geballter unvergleichlicher Pracht, kann es in diesem Punkt leicht mit Paris oder London aufnehmen. Die Zaren waren unermesslich reich und das sieht man, auch ist alles tadellos sauber und gut gepflegt, nicht nur wegen der Touristen. Seltsamer Zufall: An der Uni habe ich lange mit der hiesigen Polytechnika zu tun gehabt, ohne je hierher zu kommen und ausgerechnet an diesem Wochenende wird in Hannover das 25-jährige Bestehen des Kooperationsvertrages gefeiert. Nikolaj Arefiew, den ich von seinem Doktorandenjahr bei uns gut kenne, ist natürlich dort dabei, also Erkundung auf eigene Faust. Gute Laufschuhe sind dazu unbedingt nötig, ohne Hochhäuser streckt sich die Innenstadt in großen Blocks weitläufig an der Newa in die Breite und Tiefe. Der Fluss ist zwar mit nur 75 km recht kurz, dafür breit und er führt mit 2500 Kubikmetern pro Sekunde mehr Wasser ab als der Rhein.
Auch innerhalb der weltgrößten Bildergalerie ist Ausdauer angesagt. Zufällig haben wir den eintrittsfreien Tag erwischt, die lange Warteschlange ist überraschend schnell abgearbeitet. Neben den Bildern beeindruckt uns besonders die Inneneinrichtung der Eremitage.
Um Mitternacht erleben wir ein besonderes Schauspiel. Die gewaltigen Klappbrücken werden angestrahlt, dann öffnen sie sich für den Schiffsverkehr zwei Stunden lang.
Auch an den nächsten beiden Tagen laufen wir unsere Füße müde: In einem Nebenarm der Newa liegt der Kreuzer Aurora, mit dessen Schüssen auf das Winterpalais einst die Oktoberrevolution begann. Wir sehen noch vieles Interessante und Schöne, sind uns aber bewusst: „Das ist St. Petersburg – nicht Russland.“ Spät am Abend nehmen wir die Metro zum Flughafen, Zwischenlandung in Riga, und verbringen eine Nacht dort auf dem Fußboden – hatte ich bei der Buchung doch glatt übersehen, dass es keine Direktverbindung war (Hauptsache billig)!
St. Petersburg ist an sich schon eine Reise wert. Aber mit der „Sedov“ dorthin zu kommen, war ein ganz unvergessliches Erlebnis. Wer sich dafür interessiert, kann sich wegen näherer Auskünfte gern an uns wenden.
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